Die März-Aufstände 1920 bildeten in der Weimarer Republik den letzten Abgesang auf die revolutionären Ereignisse von 1918/19. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde durch einen Generalstreik der ArbeiterInnen zu Fall gebracht – gegen den Willen der KPD, die noch keine Chance für einen Generalstreik sah und daher gegen diesen polemisierte. Der Generalstreik ging auch noch nach der Niederschlagung des Aufstandes weiter; die ArbeiterInnen stellten bestärkt durch die Erkenntnis ihrer eigenen Stärke weitergehende Forderungen an die Politik (was leider im Zuge dieses Projektes nicht thematisiert wird). Im Ruhrgebiet formierte sich die „Rote Ruhrarmee“, deren Mitglieder sich größtenteils aus Anarcho-Syndikalistinnen der Freien Arbeiter Union Deutschland (FAUD) rekrutierten… Es war einer der letzten großen Kämpfe der organisierten ArbeiterInnenklasse, bevor sie 1935 nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zerschlagen wurde.
Frank Baier und die Grenzgänger haben in Archiven recherchiert, mit ZeitzeugInnen gesprochen und zum Teil längst vergessene Lieder aus dieser Zeit zusammengestellt und musikalisch neubearbeitet. Klassische Arbeiterlieder, bekannte Melodien mit an der (damals) tagesakttuellen Politik orientierten neuen Texten und vertonte Gedichte bilden den Grundstock dieser Sammlung. Erich Mühsams 1916 verfaßtes „Soldatenlied“ und die von ihm umgeschriebene Version der Internationalen, die als „Internationale der Rotgardisten“ tituliert wurde, ‚von unbekannten Verfasserlnnen stammende Texte über die Lebensbedingungen und Kämpfe, aber auch moderne Klassiker der soziaien Bewegungen wie die beiden Ton- Steine-Scherben-Lieder „Jetzt schiägt’s 13“ und „Schritt für Schritt ins Paradies“ finden sich neben einer Collage aus Radiomeldungen über den Kapp-Lüttwitz-Putsch und eigenen Kompositionen, die sich als moderner Arbeiterlnnenklassen-Folk mit stark ruhrgebietsbezogenen Wurzeln beschreiben. Besonders‘ eindrucksvoll ist aus dieser Hinsicht der Beitrag „Frühling im Revier“, indem aus der Sicht eines Schülers die Situation der kleinen Leute aus dem Ruhrgebiet besungen wird.
Insgesamt beweisen die Musiker ein weiteres Repertoire an Musikstilen von Folk, Chanson. Jazz bis Rap. In Zusammenarbeit mit den Rappern von »Sons of Gastarbeiter« entstand u.a. ein gemeinsamer Rap über die Erinnerung an den Kapp-Lüttwitz-Ptitsch („Märzrap 1920“), Unter Berücksichtigung der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945, wo die den Putschisten zugehörige Marinebrigade Löwenfeld ais Namenspatron für eine.Straße in Bottrop oder in der WAZ noch 1970 von bestialischem Mord an Soldaten gesprochen wurde, thematisiert dieser Song einen ganz wichtigen Aspekt der Geschichtspolitik.
Zusätzlich zu diesem Album gibt es ein umfangreiches Booklet (68 Seiten) mit Fotos, Hintergrundinfos über die Ereignisse, die einzelnen Songs sowie die Entstehung dieses Projektes. Dabei wurden vor allem Beiträge des anarchophilen Historikers Erhard Lucas, mit dem Frank Baier eng befreundet war, als Grundlage ausgewählt.
Die CD „1920 – Lieder der Märzrevolution“ kann insgesamt als ein gelungener Versuch verstanden werden, sich wieder der Geschichtsschreibung von unten anzunehmen. Sie bietet einen anderen Blick-winkel auf geschichtliche Ereignisse als das, was uns in der Schule und Universität gelehrt wird. Die Umsetzung erfolgt ohne erhobenen Zeigefinger oder den verstaubten Ton von K-Gruppen geschädigten Parteihistorikern, sondern in einer lockeren, in der Liedermacher-Tradition verhafteten Weise. Bereits in der Vergangenheit haben sich Frank Baier und auch die Grenzgänger separat von ihm in kompetenter Weise dem fast vergessenen Liedgut der ArbeiterInnenklasse angenommen Der Rückgriff auf das längst vergessene Liedgut der ArbeiterInnen ist ein wichtiger Schritt, sich über die eigenen Wurzeln und Geschichte wieder bewusst zu werden – ohne dabei automatisch in eine unkritische Betrachtungsweise zu verfallen.
DJ Chaos, in: Contraste: (Monatszeitung für Selbstorganisation) Mai 2006