Lieder der Märzrevolution 1920 mit der Gruppe „Grenzgänger“ und dem Ruhrpott-Urgestein Frank Baier
Eine in Deutschlands Kleinkunstszene einmalige Bilanz können die Bremer Folk-Avantgardisten „Grenzgänger“ vorlegen: Drei CDs haben sie veröffentlicht, dreimal erhielten sie dafür den Preis der Deutschen Schallplattenkritik; im Mai für ihr Album „1920 – Lieder der Märzrevolution“. Zuvor waren ihre Werke von der renommierten Liederbestenliste, einer Art „Hitparade“ der deutschsprachigen Liedermacher, die allmonatlich von einer 20-köpfigen Jury aus der Schweiz, Österreich, Belgien und Deutschland zusammengestellt wird, jeweils zur CD des Monats gekürt worden.
Der Silberling über die Märzrevolution, der ein reich bebildertes Booklet mit zahlreichen informativen Texten enthält, vermittelt eine unter die Haut gehende und lebendige Geschichtsstunde. Ein Denkmal setzt er dieser wohl größten Aufstandsbewegung, die es in Deutschland seit den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts gegeben hat, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.
Die „Grenzgänger“ singen und musizieren dabei gemeinsam mit dem Ruhrpott-Urgestein und Volkssänger Frank Baier. „Davon erzählt kein dickes Buch, was sich am Lippeschloss zutrug“, singt der ehemalige Bergmann Johannes Leschinsky, der selbst als 17-Jähriger noch Augenzeuge eines Massakers an Arbeitern war, die eigenhändig ihr Grab schaufeln mussten.
„Die haben die Nazi-Methoden vorweggenommen!“, berichtet er. Wehrlose Menschen seien aus den Häusern gezerrt, ihre Gesichter mit Gewehrkolben bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden. Unter dem Eindruck dieses Liedes und vor dem Hintergrund der ersten Bombenangriffe auf Bagdad begann die Formation mit den Studioaufnahmen der CD.
Ein Tabuthema bis heute. Denn der Kapp-Putsch endete mit einem mörderischen Strafgericht der Weimarer Regierung über ihre Retter, ausgeführt von denen, vor denen die Republik gerettet worden war. Die Nazis setzten dann alles daran, die Erinnerung an den größten Volksaufstand der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung auszulöschen. Schulbücher schweigen darüber, nichts darüber ist greifbare Historie. Dabei waren es gerade die Proletarier, besonders im Ruhrgebiet, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um dem kleinen Klüngel rechtsradikaler Militärs entgegen zu treten und die Republik zu retten.
Davon erzählen eindrucksvoll Songs wie der Rap „1920″. „Wer für die Reichen bluten konnt, kann für die Seinen mehr“, heißt es in dem „Soldatenlied“ von Erich Mühsam. In dem aufwühlenden Song erfahren wir aber auch, wie es endet: „Im Jahre 1920 grub man ein Massengrab, man senkte die Rotgardisten zu Hunderten hinab“, intoniert Michael Zachcial, während der gestrichene Bass und die Gitarre dazu weinen.
Im rasanten ICE-Tempo hingegen erfährt der Hörer, unter welchen Umständen die Bergarbeiter malochen mussten: Grubenunglücke gehörten zum Alltag. Für die Zechenbesitzer stand der Profit im Vordergrund, wie eine Notiz im Booklet belegt. Nach einem Grubenunglück mit 271 Toten schreibt die „Deutsche Bergwerks-Zeitung“: „Auf die Dividende dürfte das Unglück von Aisdorf ohne Einfluss bleiben.“
Und das Vermächtnis? Frank Baier drückt es im „März-Rap 1920″ so aus: „Es geht nie um Menschen, es geht immer um Macht… Das Hakenkreuz schlummert – im Schafsfell lauert der braune Dreck.“ Und schließlich konstatiert er: „Wer die Geschichte nicht kennt und das Heute nicht sieht, hat keinen Plan, was morgen geschieht.“
Die Grenzgänger beweisen, dass Geschichte Spaß machen kann. Sie beeindrucken mit einer musikalischen Vielfalt, die vom Chanson und Volkslied über den Sprechchor bis zum Samba, Jazz und Rap reicht. Ihre Lieder, egal ob mit beißender Ironie oder leiser Intensität vorgetragen, gehen unter die Haut. Da spielen keine Agitatoren, sondern Menschen, die sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, ehrlich und authentisch.
Die Rheinpfalz, 19. Januar 2007, Walter Falk